Der innere Kompass

 

Manchmal stehen wir da – inmitten von Wegen,
aber ohne Richtung. Was uns dann fehlt, ist kein Ziel.
Es ist das Vertrauen in die Stille unter unseren Schritten.
Dieser Text ist eine Spurensuche.

Ein Lauschen nach innen. Ein Versuch, dem Ungewissen
nicht auszuweichen – sondern darin heimzukehren.


Gedanken ohne Mantel

Gedanken sind nackt – sie tragen keine Kleidung. Sie treten ungefragt ins Bewusstsein – ungeordnet,
roh, und frieren im Kopf. Sie wissen nicht, wohin mit sich, fliehen vor Struktur, widerstehen der Ordnung.
In ihren lichten Momenten sind sie Offenbarung, in den anderen: ein bloßes Flimmern.
Sie warten auf Sprache wie auf ein Feuer, das sie wärmt.

Aber ich bleibe still – nicht aus Arroganz, sondern weil ich nichts weiß, was sie nicht schon selbst sind.
Es sind Fragen, die nichts verlangen – nur, dass ich bei ihnen bleibe. Manchmal sprechen Stimmen in meine
Richtung, ohne Herkunft, ohne Gesicht. Keine Erinnerungen, keine inneren Dialoge, keine bekannten Laute.
Es sind Stimmen aus einer Tiefe, die sich mir entzieht. Ich antworte nicht. Es wäre sinnlos, einer Stille zu
antworten, die nicht auf ein Echo wartet. Und doch höre ich – mit jenem inneren Fühlen, das keine Sprache
kennt, in etwas hinein, das schon immer da war und alles versteht.


Die Farben dazwischen

zen, yin-yang, spiritualität

Schwarz denkt sich in Weiß hinein. Nicht, um es zu vertreiben –
sondern um es zu verstehen. Weiß antwortet nicht mit Abwehr.
Es öffnet sich. Und dort, wo sich ihre Grenzen berühren, entsteht Grau.
Nicht als Mischung – als Raum.

Grau ist nicht neutral. Nicht passiv. Es bleibt in Bewegung.
Es entzieht sich dem Urteil, kennt kein Zentrum, keinen Rand.
Gerade deshalb ist es das Wahrhaftigste aller Felder. Wer in Grau steht,
steht im Übergang.

Ich bin oft dort –
und spüre, wie mir der Boden unter den Füßen verschwindet. Nicht, weil ich falle, sondern weil es keinen festen
Grund gibt, wenn man auf sich selbst trifft. Nicht Halt, nicht Sturz – nur dieses Schweben ohne Rand, mitten
in mir selbst. Ein Moment vor jedem Wort, der sich nicht benennt, nur ist. Und vielleicht ist das das Schwerste:
im Übergang zu bleiben – ohne Halt, ohne Gewissheit – und trotzdem nicht zurückzuweichen. Denn wo alles klar ist,
kann nichts wachsen. Nur im Unklaren beginnt etwas zu atmen.


Der Kompass nach innen

Ich trage einen Kompass in mir. Er ist alt.
Ohne Norden, ohne Skala. Die Nadel zeigt nicht nach oben oder unten –
sie zeigt nach innen. Dorthin, wo kein Licht ist. Wo keine Karte hilft.
Wo sich Richtung nicht an Sternen orientiert, sondern an Stille.

Stille ist kein Ort, und doch spüre ich darin den Weg, der mich meint.
In dieser Stille erkenne ich nichts – und finde mich. Nicht als Figur,
nicht als Rolle, nicht als Name oder Funktion. Ich finde mich als Bewegung, als Gegenwart, als Ahnung.

Der innere Kompass lügt nicht. Er schweigt. Aber wer lange genug hinsieht, spürt: Stille ist kein Mangel. Sie ist ein Ursprung. Kein Weg führt hinaus. Tiefe ist kein Ort, nur Zeit in sich selbst gekehrt.


Die Richtung der Rückkehr

Wenn ich dorthin gehe, wo ich nichts erkenne, verliere ich mich nicht. Ich finde den Teil, der nie greifbar war –
weil er nie festgelegt werden konnte. Ich finde kein Ziel. Ich finde ein Werden. Vielleicht ist das die eigentliche Richtung: weder vorwärts noch rückwärts – sondern tiefer in mich hinein. Dorthin, wo ich mich immer wieder neu beginne.

Und wenn ich schweige, dann spreche ich vielleicht zum ersten Mal in meiner eigenen Sprache.
Worte ohne Griff, frei von Zielen, frei vom Klang – und doch: sie berühren. Nicht um etwas zu erklären,
sondern um zu erinnern. Eine Sprache, die nicht überzeugt – die verbindet. Die nicht erklärt – die erinnert.

Und dort, wo Worte fehlen, bleibt etwas bestehen, das wahrer ist als jedes Wissen: der leise Ruf des Inneren,
der keine Form braucht, um zu führen. Vielleicht ist das, was wir suchen, nicht Richtung – sondern das Vertrauen,
dass wir im Gehen immer schon geführt sind.

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