Zwischen Faden und Fluss.
Ein Essay über Dunkelheit, Übergänge und das Sprechen der Stille
„Der Tod ist nicht das Gegenteil des Lebens,
sondern nur das Gegenteil der Geburt.“
(Paul Valéry)
Es gibt Nächte, die sind nicht einfach nur dunkel. Sie tragen ein Gewicht in sich, das nicht von dieser Welt zu sein scheint – und doch ist es tief in uns verwurzelt. In dieser Art von Dunkelheit geschieht nichts Bedrohliches, aber auch nichts bleibt verborgen. Sie fordert keine Handlung, sondern nur unsere Gegenwart. Nur das stille Aushalten des eigenen Inneren.
In solchen Nächten geschieht etwas: Die Dinge verlieren ihre Umrisse, und was bleibt, ist der Schatten.
Nicht als Feind, sondern als Spiegel. Die Hölle, wenn sie überhaupt existiert, könnte nichts anderes sein als der unausweichliche Moment, in dem man sich selbst erkennt – ohne Maske, ohne Ausrede, ohne Licht.
Ich denke dann an die Nornen – diese stillen, uralten Schwestern
am Webstuhl des Schicksals. Sie spinnen den Faden unserer Existenz,
knüpfen Verbindungen, reißen sie ab und fügen neue hinzu.
Sie weben nicht nur aus dem Gold der Freude, sondern auch aus dem
Schwarz der Kälte, aus Schmerz, Verlust und Fragen, auf die niemand
antwortet. Ihre Arbeit ist neutral – nicht grausam, nicht barmherzig.
Sie ist notwendig.
Ich stelle mir vor, wie Charon nicht ungeduldig ist, nicht mahnend.
Er steht da, schweigend, die Hand am Ruder. In seinem Schweigen liegt
eine Frage: Bist du bereit? Bereit, zu sehen, was du nicht sehen willst?
Bereit, weiterzugehen, auch wenn du noch nicht weißt, wohin dieser Weg führt? Ist es das unbekannte Ufer des Lebens nach dem Tod, die Entdeckung neuer Dimensionen des Seins oder vielleicht die Konfrontation mit den eigenen Ängsten und Hoffnungen? Das 'Wohin' bleibt ein Mysterium, das uns herausfordert, den Mut zu finden, den nächsten Schritt zu wagen.
Der Faden. Der Fluss. Zwei Bewegungen, die unser Dasein durchziehen.
Der eine zieht uns durch das Gewebe der Zeit, der andere trägt uns durch die Strömung der Wandlung.
Und zwischen beiden – dort, wo sie sich begegnen – liegt jener Ort, an dem meine Seele fröstelt.
Nicht aus Angst, sondern weil sie spürt: Etwas ist im Begriff, sich zu verändern.
Was dort geschieht, entzieht sich der Sprache. Deshalb folgt nun kein Gedanke, sondern ein Gedicht –
eine Stimme aus jenem Zwischenraum, dort, wo das Dunkel nicht mehr nur Abwesenheit ist,
sondern Anfang einer anderen Erkenntnis:
Zwischen Leben und Tod, ein schmaler Grat,
Ein Tanz auf dem Seil, kein sicherer Pfad.
Das eine ist flüchtig, das andere gewiss,
Im Lebenshauch liegt des Todes Kuss.
Wir suchen nach Wegen, die Ewigkeit zu greifen,
Aber sie entschwindet uns, ohne zu begreifen.
Mit jedem Atemzug, dem Sterben nah,
Doch im Hier und Heute liegt die wahre Macht.
Darum lebe, als gäbe es kein Ende.
Lass Mut und Liebe die Herzen entzünden.
Denn, das Leben ist es wert, ein Meisterwerk zu sein,
das der Tod begehrt.
Und wenn am Ende des Weges die Zeit verrinnt …
Die Erinnerung bleibt, wie ein Flüstern im Frühlingswind.
Sollte der Faden irgendwann reißen, bleibt das Gewebe. Nicht alles vergeht, was verloren scheint.
Ein Blick, ein Wort, ein Schritt im Staub – sie wohnen weiter, jenseits von Raum und Zeit.
Im Strom der Vergängnis fließt Erinnerung. Und vielleicht ist das, was wir Seele
nennen, nichts als das, was bleibt.
© AH. 2025
„Der Tod ist ein Tor, das sich öffnet,
um das Leben zu empfangen.“
(Khalil Gibran)