Zum Inhalt springen
pen.jpg
Weihnachten & Neujahr

Die andere Tonart, Prosagedicht

Unterm Tannenbaum erzählen wir uns jedes Jahr dieselben Geschichten –
und doch klingen sie jedes Mal anders.

Zwischen Stern und Stall, Bart und Rentierschlitten verschiebt sich leise die Tonart.
Am Ende bleibt eine Frage: Was übertönt wen –
und was leuchtet trotzdem, auch ohne zu schreien?


Unterm Tannenbaum ist es wärmer als draußen.
Das Kaminfeuer knackt, es riecht nach Holz, und die Zeit scheint
langsamer zu laufen. Goldene Kugeln hängen in den Zweigen, das Licht
der Lichterkette zittert in den Fenstern – und in den Augen der Kinder.

Sie sitzen da und hören zu. Nicht halb, nicht nebenbei,
sondern mit dem ganzen Körper. Als wäre Lauschen eine Haltung.
Als wäre da etwas, das man nur empfängt, wenn man still genug wird.

Da sind die alten Geschichten. Könige ziehen durch die Nacht,
nicht weil sie reich sind, sondern weil sie suchen. Ein Stern steht
über allem, nicht wie Reklame, eher wie ein leiser Fingerzeig:
Dort. Geh. Vertrau. Und irgendwo am Rand dieser Welt, in einem Stall,
beginnt etwas, das größer ist als seine armselige Kulisse: Stroh, Atem, Kälte –
und doch ein Anfang, der wärmt. Engelgesang, sagt man. Vielleicht ist es
auch nur die Hoffnung selbst, die plötzlich eine Stimme bekommt.

In solchen Momenten wirkt Weihnachten wie eine kleine Gegenwelt:
nicht Show, nicht Lärm, sondern die Erinnerung daran, dass das Wichtigste
oft still beginnt. Dass Rettung nicht immer wie Rettung aussieht.

Und dann – fast unmerklich – schiebt sich etwas Neues in den Kreis.
Die Bilder wechseln. Der Stern wird zum Glitzerstern. Der Stall tritt zurück.
Statt Königen kommen Rentiere, statt Wüste: Nordpol. Statt Stroh:
Geschenkpapier, so bunt, dass es schon vor dem Auspacken verspricht,
was es später vielleicht nicht halten kann.

Der Mann mit dem weißen Bart tritt auf, groß, freundlich, rund wie
ein Versprechen. Er schwebt heran, als könne Schwerkraft ihm
nichts anhaben. Vielleicht ist genau das der Punkt:
Er ist leichter zu glauben als ein Gott im Stall. Er verlangt nichts.
Er fragt nicht nach dem Herzen. Er kommt, bringt, lächelt, verschwindet.
Ein Wunder ohne Zumutung.

Mit ihm kommt das Rascheln: Elfen, Klabauter, Schleifen wie kleine
Feuerwerke. Alles ist verpackt, damit man es feierlich aufreißen kann.
Und während das Papier fällt, fällt auch etwas anderes: die Stille.
Man merkt es erst später, wenn man zurückblickt. Die Melodien werden eingängiger, die Botschaften einfacher. Aus „Frieden“ wird ein Gruß,
aus „Wunder“ eine Überraschung.

Das ist nicht nur schlecht. Es ist menschlich. Wir brauchen Bilder,
die wir tragen können, wenn das Jahr schwer war. Und doch bleibt da
dieser feine, unangenehme Gedanke: Was, wenn wir das Kind im Stroh nicht verlieren, weil wir es verachten – sondern weil wir es übertönen?

Denn die alte Geschichte flüstert. Sie drängt sich nicht auf. Sie wartet darauf,
dass jemand leiser wird. Die neuen Geschichten dagegen haben Lautsprecher.
Sie blinken und klingeln, bis man glaubt, das sei schon das Fest.
Die alte Geschichte bleibt. Sie geht nicht unter.
Aber sie braucht Platz – in uns.

Die neuen Götter singen einfach lauter.

Und doch: Manchmal, spät am Abend, wenn die Pakete weg sind
und nur noch ein Rest von Tannenduft im Zimmer hängt, passiert es.
Das Feuer sinkt in Glut, die Stimmen werden gedämpfter,
ein Kind ist schon halb eingeschlafen.

Dann ist sie wieder da, diese andere Tonart.
Kein Glitzer. Kein Jingle. Nur ein stiller Gedanke:
Dass Frieden nichts ist, was man kaufen kann.
Dass das Große manchmal im Kleinen anfängt.
Und dass ein Stern nicht schreien muss, um zu leuchten.


Ich wünsche euch ein frohes Fest –
und ein bisschen von dieser anderen Tonart.